Tommy will nichts erzählen

Es muss nicht gleich eine Depression dahinterstecken, wenn Kinder und Jugendliche sich zurückziehen und nur noch schweigen. Aber auch andere Ursachen erfordern Wachsamkeit.

„Ich erreiche meinen Sohn überhaupt nicht“,

Was war denn in der Schule? Tommy löffelt stumm seine Suppe. Die Stimme seiner Mutter hört er nur von Ferne. Erzählen will er nichts. Nichts von der Fünf in Mathe, nichts von der Prügelei auf dem Schulhof, bei der er den Kürzeren gezogen hat. Die Schulter schmerzt, aber das sieht ja niemand.
Tommy bleibt an diesem Nachmittag stumm. Er dröhnt sich mit Musik voll. Bis es der Mutter zu viel wird. Aber ballern am Computer tut’s auch; wenn die Mutter das Zimmer betritt, ist der Bildschirm leer. Alles eine Frage der Schnelligkeit ...
„Ich erreiche meinen Sohn überhaupt nicht“, klagt seine Mutter einige Tage später dem Klassenlehrer. Der wiederum berichtet über einen Leistungsabfall und Einzelgängertum in der Klasse. Dabei waren die Zeugnisse in der sechsten Klasse noch recht gut ausgefallen. Und von der Messdienerstunde war Tommy oft ganz angeregt zurückgekommen. Warum dann dieser Rückzug von Freunden? Und dieser Rückzug aus dem Kontakt mit den Eltern?

„Wieso sitze ich beim Psychiater?“

Änderungen wie bei Tommy bereiten Eltern große Sorgen. Von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung) haben die meisten schon mal gehört; aber Tommys Verhalten will auf diese Beschreibungen nicht so richtig passen. Sollen sie einen Fachmann einschalten? Und wenn ja, welchen?
Beim Kinder- und Jugendpsychiater (dem Nervenarzt und Psychotherapeuten für alle bis 18) hoffen die meisten Eltern auf rasche Abhilfe, auf irgendetwas, das im erzieherischen Alltag schnell eine Änderung bewirkt. „Sie können bestimmt im Gespräch mit unserem Sohn herausfinden, was seine wirklichen Sorgen sind!“
Doch zunächst steht eine sorgfältige fachliche Klärung an, und die ist oft zeitintensiv.

Natürlich gehören dazu auch Gespräche mit Tommy selbst. Der tut sich anfangs schwer mit der Situation: „Wieso sitze ich jetzt beim Psychiater? Halten die mich für verrückt? Schwierigkeiten, Sorgen? Ich weiß nicht, was Sie meinen!“ Manchmal ist ein solches Gespräch etwas zäh...

Ursachenforschung

Zusammen mit den Eltern und den Jugendlichen muss der Kinder- und Jugendpsychiater oft Einzelheiten einer hoch komplexen Situation zusammentragen. Welchem definierten Krankheitsbild lässt sich die individuelle Situation zuordnen? Gewiss denkt der Kinder- und Jugendpsychiater auch an eine Depression des Kindes- und Jugendalters mit ihren neurobiologischen Ursachen , im Mittelpunkt entsprechender Erklärungsmodelle steht heute ein Problem der Überträgerstoffe im Stoffwechsel des Gehirns. Bei Erwachsenen hat die Wissensvermittlung zum Krankheitsbild (Psychoedukation) einen wichtigen Stellenwert; psychotherapeutische Behandlungsschritte und eine angemessene medikamentöse Therapie sind Standards der Behandlung. Doch bei 14-Jährigen wie Tommy ist eine Depression in der Form wie im Erwachsenenalter noch sehr selten.

Vielleicht ist es ja mobbing?

Also gilt es auch andere, genauso behandlungsbedürftige Ursachen für Tommys Veränderungen in Betracht zu ziehen. Leidet er womöglich an den nachhaltigen Folgen einer schwerwiegenden Beeinträchtigung, eines Psychotraumas? An einer Anpassungsstörung, wie sie bei anhaltenden Stressfaktoren auftreten kann? Schulische Überforderung? Unzureichende Fertigkeiten im Kontakt mit Gleichaltrigen? Ausgrenzung in der Schule bis hin zum Mobbing? Auch solche Erklärungen scheinen möglich. Und für gewöhnlich sind 14-Jährige zudem mit den körperlichen Veränderungen der Pubertät sehr beschäftigt.

… oder das Computerballern?

Auch „banale“ Einflüsse darf der Kinder- und Jugendpsychiater nicht übersehen: Exzessives Computerspielen verhindert ausreichendes schulisches Lernen und entsprechende Erfolgserlebnisse. Es verhindert oft auch den Umgang mit Gleichaltrigen, die Teilnahme am Nachmittag der Jugendfeuerwehr, das Bolzen auf der Straße. Nichts ist wichtiger als der Kontakt zu Gleichaltrigen in dieser Lebensphase! Man gehört nicht zufällig zu einer Gruppe, oft muss es richtig erlernt werden. Die Erwachsenen können oft genug dafür die Gelegenheiten schaffen und Störfaktoren wie den Computer mit Nachdruck ausschalten. Mut zur Einmischung, klar formulierte, aber angemessene Erwartungen an das schulische Programm und eine Strukturierung des Tagesablaufes helfen dem Jugendlichen, elterliche Standpunkte wahrzunehmen und als verbindliche Vorgabe zu erkennen.

Diagnose „Depression im Kides- und Jugendalter“

Heißt die Diagnose tatsächlich „Depression im Kindes- und Jugendalter mit neurobiologischer Grundlage“, dann folgt oft eine medikamentöse Behandlung. Sie soll zunächst das Gleichgewicht im Stoffwechsel der Botenstoffe des Gehirns wieder herstellen. Als sehr hilfreich erweisen sich oft die körperliche Aktivierung der jungen Leute, die Förderung ihres Genusserlebens sowie Informationen über das Krankheitsbild der Depression. Auf dieser verbesserten Grundlage können sich Behandler und Patient dann den alltäglichen Erfordernissen zuwenden, deren Bewältigung die Depression erschwert oder gar verhindert hat; dazu gehört es in aller Regel auch, altersentsprechende Kontakte zu knüpfen.

Bei schweren Depressionen muss der Kinder- und Jugendpsychiater auch eine stationäre Versorgung seiner Patienten in Betracht ziehen. Lebensüberdruss, Selbstmordabsichten oder gefährliche Verhaltensweisen treten aber nicht nur bei Depressionen, sondern auch bei anderen, „verwandten“ Krankheitsbildern auf. Hilfe brauchen vor allem auch die verschlossenen, unscheinbaren Jugendlichen, die still leiden; sie werden den Ärzten und Psychotherapeuten seltener vorgestellt als Gleichaltrige, die „stören“.

Manchmal erschrecken Jugendliche selbst, wenn sie merken, wie ernst Erwachsene ihre Suiziddrohungen nehmen. Wachsamkeit, intensive Gespräche und die Einbeziehung von Fachleuten sind notwendig, damit es ihnen gelingt, wieder eine lebensbejahende Perspektive zu gewinnen.

Michael Brünger

Alarmsignale für Eltern

Das „normale“ Himmelhoch-jauchzend-zu-Tode-betrübt der Pubertät von alarmierenden Verhaltensweisen ihrer Kinder zu unterscheiden, fällt Eltern oft schwer. Sinnvoll ist eine Beratung auf jeden Fall,

  • wenn Kinder und Jugendliche nicht nur gelegentlich traurig sind, sondern anhaltend niedergeschlagen wirken,
  • wenn Eltern das Gefühl haben, sie im Gespräch „nicht mehr zu erreichen“,
  • wenn die Stimmungsschwankungen der Jugendlichen ein scheinbar unerklärliches Ausmaß annehmen
  • und selbstverständlich wenn sie Lebensüberdruss äußern und sich mit Rasierklingen oder anderen scharfen Gegenständen an Armen und den Beinen „ritzen“ oder anderweitig selbst verletzen.

Erste Ansprechpartner sind dann der Kinder- und Jugendarzt und Erziehungsberatungsstellen, die gegebenenfalls für eine Überweisung zum Kinder- und Jugendpsychiater sorgen.
Als Ursache dafür kommen durchaus auch andere Erklärungen als eine Depression in Frage. Die Behandlung umfasst vorrangig den Schutz der jungen Leute vor akuten Selbstgefährdungen sowie je nach der individuellen Problematik psychotherapeutische Hilfe, medikamentöse Unterstützung und Hilfen für die Eltern. Die Behandler sollen die betroffenen Kinder und Jugendlichen dabei alters- und reifegemäß einbeziehen; das Kinder-und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) und die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen fordern das unter dem Begriff „Partizipation“.

Wenn dieses Bündnis mit dem Kind oder Jugendlichen gar nicht gelingen will, können Eltern beim Familiengericht notfalls einschränkende Maßnahmen zu seinem Schutz beantragen.